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Beitrag vom 19.06.2012
Aya Ben Ron - Hanging
Judith Meisner
Die erste Monographie zum Werk der mehrfach ausgezeichneten israelischen Künstlerin erschien im Hatje Cantz Verlag. Der Band stellt Arbeiten aus ihren Serien der letzten zehn Jahre vor und ...
... enthält Essays renommierter ExpertInnen aus Kunst, Philosophie und Medizin. Die Ausstellung mit ihren Arbeiten war bis 9. September im Medizinhistorischen Museum der Charité zu sehen.
Ärztliche Kunst
Die Israelin Aya Ben Ron präsentiert Arbeiten in der Berliner Charité
Die Berliner Charité ist ein Krankenhaus, keine Kunstgalerie. Gerade deshalb ist Aya Ben Ron mit ihrer Ausstellung A Voyage to Cythera im Medizinhistorischen Museum der berühmten Klinik am richtigen Ort. Denn ihre Arbeiten – Skulpturen, Videos mit Gedichten und Soundinstallationen, Fotomontagen und Zeichnungen – befassen sich mit der Wahrnehmung und Darstellung des Körpers in Kunst und Medizin. Thomas Schnalke, der Direktor des Museums, hat die Israelin, die in Tel Aviv lebt, zu einer künstlerischen Intervention in die Dauerausstellung medizinischer Präparate eingeladen.
Krankenschwester
Folgerichtig präsentiert sich die Künstlerin im einleitenden Video mit Schwesternhäubchen vor dem berühmten Gemälde von Jean-Antoine Watteau Einschiffung nach Kythera, das eine Reisegesellschaft unmittelbar vor der Überfahrt zu der Glück verheißenden Insel zeigt. Im Text von Aya Ben Ron heißt es dazu: "Venus erscheint mit amputierten Armen – sie ist das Symbol der Liebe."
Wie eine Reiseleiterin zu Sehenswürdigkeiten führt Schwester Aya per Video die ZuschauerInnen dann zu den 18 Stationen ihrer Schau: Es sind menschliche Organe, in Formaldehyd konserviert und in Schaukästen präsentiert. Einige von ihnen stammen noch vom Museumsgründer Rudolf Virchow aus dem 19. Jahrhundert. An dessen Schreibtisch ist eine Klanginstallation von Aya Ben Ron zu hören. An anderen Stationen rezitiert die Künstlerin Gedichte auf Hebräisch.
Es ist ihr ein wichtiges Anliegen, ihre Muttersprache in der Charité erklingen zu lassen, aus der nach 1933 jüdische Ärzte und Ärztinnen verdrängt worden waren. "Meine Großmutter stammte aus Polen und studierte in Wien Medizin, bevor sie in den 30er-Jahren vor den Nationalsozialisten fliehen musste", erzählt die Israelin, die am renommierten Londoner Gold-smith Coollege studiert hat. "Sie bat mich, niemals deutschen Boden zu betreten. Als ich das Angebot für eine Ausstellung in Berlin bekam, war sie schon gestorben."
Präparate
Durch die Großmutter, die in Haifa als Gynäkologin praktizierte, ist Aya Ben Ron das Krankenhausmilieu von Kindheit an vertraut. Was auf viele Menschen einschüchternd wirkt und sie beklommen macht, etwa medizinische Geräte, findet die 45-Jährige inspirierend. In ihrer Kunst beschäftigt die Tel Aviverin sich ausschließlich mit medizinischen Themen. Wie fühlt sich ein Mensch im Krankenbett? Was bedeutet Heilung? In einem ihrer Gedichte heißt es: "Du wirst gerettet, bis du stirbst."
Zugleich bringt Aya Ben Ron eine zweite Ebene in die nüchternen Räume des Medizinhistorischen Museums der Charité: die Erinnerung an die Schicksale derjenigen, deren konservierte Organe heute zur Anschauung für StudentInnen und BesucherInnen zur Verfügung stehen. Was haben diese Menschen erlebt und gefühlt? Aya Ben Ron geht der Frage nach und versucht, in ihren Geschichten Antworten zu geben.
Sie möchte mit ihrer künstlerischen Intervention den ausgestellten Präparaten ihre Würde zurückgeben, indem sie daran erinnert, dass es Teile von einst lebenden Menschen waren. Das zielt auch kritisch auf die moderne Medizin, die das menschliche Wesen auf erkrankte Organe reduziert: "Krankheit muss nicht nur Mangel sein. Sie kann auch bereichernd sein. Das ist in unserer Leistungsgesellschaft vergessen."
Anatomie
Manche von Ben Rons Arbeiten wirken verstörend, sollen es auch sein. Etwa die Entwürfe für eine überlebensgroße Stahlskulptur, die sie im Seziersaal der Charité gezeichnet hat: Ein Toter ist aufgespannt an Haken und Galgen, um seine Organe auszuweiden, umgeben von StudentInnen und ÄrztInnen. Die Arbeit mit dem Titel Anatomy Class 1 ist auch eine Hommage an Rembrandt und dessen Gemälde Anatomie des Dr. Tulp aus dem 17. Jahrhundert.
Gleichzeitig mit der Schau in der Charité lief bis zum 29. Juni in der Galerie Aando Fine Art eine zweite Ausstellung von Ben Ron. Auch hier ging es um Krankheit und Medizin, wie schon der Titel verrät: First Aid Station, übersetzt "Erste-Hilfe-Station". Wobei der Künstlerin der Ausstellungsort Charité in gewisser Weise mehr liegt. Sie will bewusst nicht nur in Galerien oder Kunstmuseen ausstellen, um als Künstlerin auch mit Menschen zu kommunizieren, die nicht aus der kreativen Szene kommen: "Kunst sollte nicht isoliert in einem speziellen Raum präsentiert werden." Dort wirkten Kunstwerke wie edle Designprodukte oder Statussymbole von Raumausstattern. Das entspricht nicht Aya Ben Rons Vorstellungen: "Ich möchte Menschen in ihrem Denken verändern – nicht in ihren Konsumgewohnheiten."
Die erste Monographie zum Werk der israelischen Künstlerin erschien im Hatje Cantz Verlag. Der Band stellt Arbeiten aus all ihren Serien der letzten zehn Jahre vor. Sie enthält Essays renommierter ExpertInnen aus Kunst, Philosophie und Medizin – wie Michal Ben-Naftali, Suhail Malik und Yechiel Michael Barilan – und eröffnet einen neuen Blick auf das ungewöhnliche Werk der Künstlerin, darunter auch zu ihren neuesten Arbeiten für das Berliner Medizinhistorische Museum der Charité.
Zur Künstlerin: Aya Ben Ron, geboren 1967 in Haifa, lebt und arbeitet in Tel Aviv. Sie arbeitet mit unterschiedlichsten Medien, darunter Zeichnungen und Skulpturen, Video und Installationen. Aya Ben Ron ist Absolventin des Goldsmiths College an der Universität London und des Beit Berl College, The School of Art, Hamidrasha, Israel. Sie wurde mehrfach ausgezeichnet, zuletzt mit dem Dizengoff Prize (2011).
Diverse Einzel- und Gruppenausstellungen weltweit.
Weitere Infos unter: ayabenron.com
Aya Ben Ron
Hanging
Erste Monografie zum Werk der israelischen Künstlerin
Hrsg. Suhail Malik, Texte von Yechiel Michael Barilan, Michal Ben-Naftali, Galit Eliat, Sander L. Gilman, Thomas Schnalke, Gestaltung von Marc Naroska
Hatje Cantz Verlag, erschienen April 2012
Englisch
196 Seiten, 228 farbige Abb. 24,70 x 28,60 cm, gebunden
ISBN 978-3-7757-3213-0
Euro 39,80
www.hatjecantz.de
Dieser Beitrag wurde uns von der Journalistin und Kunsthistorikerin Judith Meisner freundlicherweise zur Verfügung gestellt. Erstmalig ist die Rezension im Juni 2012 in der Jüdischen Allgemeinen Wochenzeitung erschienen.